Senkrechter Schuss: Fliegt das Geschoss schneller hoch, als es runterfällt?

Angeregt durch ein interessantes Video (siehe unten)1, in dem die Frage beantwortet wird ob das Schießen in die Luft durch herabfallende Geschosse tödlich sein kann, habe ich mir ein paar Gedanken über die mathematische Beschreibung der Flugbahn des Projektils gemacht. Konkret wollte ich wissen ob die Zeit, die das Projektil bis zum höchsten Punkt der Flugbahn braucht größer ist, als die vom höchsten Punkt bis zum Boden. Rein qualitativ betrachtet war die Antwort mir klar, aber eine mathematische Gleichung ist doch etwas aussagekräftiger.

Betrachtet man einen senkrechten Schluss in die Höhe und ignoriert dabei den Luftwiderstand, dann ist die Sache sofort klar. Das Geschoss wird auf dem Boden mit der gleichen Geschwindigkeit aufkommen, die es beim Abschuss hatte. In diesem Fall kommt aber auch heraus, dass ein Geschoss aus einem G3 (Kaliber: 7,62 × 51 mm NATO) 30 km hoch kommt. Nicht besonders realistisch. Für eine genauere Beschreibung muss also auf jeden Fall der Luftwiderstand berücksichtigt werden.

Patrone 7,62 × 51 mm senkrecht in die Luft abgeschossen. Der Luftwiderstand wird vernachlässigt, deswegen ist die Bahnkurve um den Scheitelpunkt symmetrisch.

Berücksichtigt man den Luftwiderstand so bekommt für die y-Geschwindigkeit und die y-Bewegung folgende Gleichungen (nur für den Aufstieg!).

vt=v0+vEtangvEtSt

st=s0+vE2glogcosgvEtStcosgvEtSt0

Darin enthalten sind: die Startgeschwindigkeit v0, die Starthöhe s0, die Startzeit t0, die Zeit bis zum Scheitelpunkt der Flugbahn tS und der Term vE für die Endgeschwindigkeit des Geschosses beim runterfallen. Der letztere enthält auch alle in Informationen über den Luftwiderstand und wird wie folgt berechnet.

vE=2mgcwρA

Wie man auf den Term kommt und was die Parameter bedeuten, habe ich bereits in einem anderen Artikel erklärt.

Die Zeit bis zum Scheitelpunkt berechnet man aus der Geschwindigkeitsgleichung, in dem man sie gleich Null setzt.

tS=vEgarctanv0vE

In dem oberhalb erwähnten Video wurden einige Messwerte für den G3 genannt, deswegen habe ich mich auch darauf bezogen um einen Vergleich zu haben. Dabei habe ich folgende Werde gewählt:

r = 7,82 mm (für die Projektilfläche)
m = 0,010 kg
v0 = 785 m/s
cw = 0,3
ϱ = 1,2 kg/m³
g = 9,81 m/s²

In dem Video wurde das Gewehr in einem Winkel von 70° positioniert. Um dies zu berücksichtigen, wurde die Anfangsgeschwindigkeit in x- und y-Komponenten aufgeteilt2. Jede dieser Komponenten wurde durch eigene Gleichung beschrieben.

Dadurch bekommt man für die Geschossendgeschwindigkeit im freien Fall vE=112 m/s bzw. 404 km/h. Der Mann im Video hat eine Geschwindigkeit von 146 m/s abgeschätzt, wobei nicht klar ist, wie genau diese Abschätzung ist und ob nur die y-Komponente oder die Gesamtgeschwindigkeit gemeint war.

Im Video sieht man einige Plots, die ich für einen qualitativen Vergleich heranziehen möchte3.

Geschwindigkeits- (links) und Ortsverlauf (rechts) des Projektils. Unklar ist die Einheit der x-Achse und die Bedeutung des Plots in der Mitte.

Ganz links sieht man den Geschwindigkeitsverlauf (nur y-Komponente?) des Projektils. Ich nehme an, dass die Auftragung gegen die Zeit erfolgt.

Gesamtgeschwindigkeit des Projektils aufgetragen gegen die Flugzeit. Das Minimum der Geschwindigkeit entspricht dem höchsten Punkt der Flugbahn.

Wenn man nur den Abschnitt bis zum Minimum anschaut, so sieht in einen qualitativ ähnlichen Verlauf. Auffällig in dem Messplot, dass der der Verlauf aus drei Abschnitten besteht. Bei etwa der Hälfte der Maximalgeschwindigkeit sieht man einen deutlichen Knick, ab dem die Geschwindigkeit deutlich flacher abfällt. Dieser Knick liegt knapp über 300 m/s und entsteht dadurch, dass das Projektil den Überschallbereich verlässt. Im Überschallbereich ist der cw-Wert deutlich höher und somit auch der Geschwindigkeitsverlust (steilerer Verlauf im Plot). Im unserem Modell wurde der cw-Wert als konstant angenommen, deswegen taucht auch der Knick nicht auf.
Die Ursache des zweiten Knicks kann ich nicht erklären, es könnte auch einfach eine Ungenauigkeit der Messung sein.

Betrachten wir die Steighöhe im zweiten Plot.

Maximale Flughöhe des Projektils

Verwende ich die oberen Gleichungen, so bekomme ich folgenden Plot.

Flughöhe des Projektils nach oberen Bewegungsgleichungen. Das Maximum liegt bei 2250 Meter.

Die maximale Flughöhe von 2250 Metern stimmt sehr gut mit der Messung überein.
Man sieht auch die typisch schiefe Form der Flugbahn, die durch den Luftwiderstand bedingt wird.

Jetzt wissen wir, dass die oberen Bewegungsgleichungen akzeptable Ergebnisse liefern, können wir auch die Eingangsfrage beantworten. Braucht ein Projektil zum höchsten Punkt der Flugbahn mehr Zeit als von dort bis zum Boden? Um diese Frage zu beantworten habe ich die Flughöhe gegen die Zeit aufgetragen (Schuss senkrecht nach oben).

Flughöhe des Projektil in Abhängigkeit von der Flugzeit.

Man sieht eindeutig, dass die Zeit bis zum Maximum kleiner ist, als die Zeit vom Maximum bis zum Aufschlag. Damit ist die Frage eindeutig geklärt. Der Grund für dieses Verhalten ist wie bereits angesprochen der Luftwiderstand. Am Anfang bewegt sich das Projektil mit der Überschallgeschwindigkeit bis es durch den Luftwiderstand und die Gravitation abgebremst wird. Beim runterfallen erreicht das Projektil aber nicht mehr die Überschallgeschwindigkeit, sondern nur die Endgeschwindigkeit vE (siehe Formel oberhalb) und legt dementsprechend pro Sekunde eine kleinere Strecke zurück (braucht länger für die gleiche Strecke).

Im Plot kann man auch die maximale Flugzeit von 45 Sekunden ablesen, die sehr gut mit den 47 Sekunden aus dem Video übereinstimmt. Was ein weiteres Indiz für die Brauchbarkeit der oberen Bewegungsgleichungen ist4.

1 Die Einnahme von Beruhigungstropfen gegen den nervigen Moderator ist empfehlenswert.
2 Eigentlich darf man das nicht machen, weil die Gleichungen nicht linear sind. Die Abweichungen, die dabei entstehen sind für unsere Betrachtung aber irrelevant.
3 Die Qualität ist miserabel. Wer das Video in HD-Qualität findet, darf mir gerne einen Link zukommen lassen.
4 Natürlich nur für qualitative Betrachtungen. Die Modelle für genaue Ballistikberechnungen sind viel umfangreicher.

6 Gedanken zu „Senkrechter Schuss: Fliegt das Geschoss schneller hoch, als es runterfällt?“

  1. Hallo, ich hätte hier was zu beanstanden. Die funktionelle Formel für den Kugelflug könnte hier nicht stimmen, auch, wenn man als Start vo=vstart-ve annimmt. Die Endgeschwindigkeit hätte knapp 550 m/s betragen. Als tan war hier wohl tanh Funktion gemeint, der Autor hat sich nur verschrieben.
    Gruß, Max

  2. Hallo,
    habe momentan kein Zeit es nachzurechnen. Schaue ich mir irgendwann später an, aber danke schon mal für die Anregung.
    Gruß
    Maxim

  3. Hallo Maxim,
    ich habe mir etwas Zeit genommen, die Geschwindigkeit aufwärts bis zu 0 auszurechnen.
    da es kein freier Fall ist.
    Viele Grüße,
    Max

    PS: Horizontaler Schuss:
    Das macht ansteckend:-)

  4. Hallo Maxim,
    ich habe mir etwas Zeit genommen, die Geschwindigkeit aufwärts bis zu V=0 auszurechnen. v(t)=sqrt(mg/k)*tan[Vo*sqrt(mg/k)-sqrt(kg/m]*t, da es kein freier Fall ist.
    Viele Grüße,
    Max

    PS: Horizontaler Schuss: v(t)=Vo/(1+k/m*Vo*t); S(t)=m/k*ln(1+1+k/m*Vo*t)
    Das macht ansteckend:-)

  5. Sehr interessant. Mit den Formeln an sich kann ich leider wenig anfangen, deshalb nur ein kleiner Tipp:

    „Geschosse“ von Beat Kneubühl. Das ist quasi die Bibel für Ballistiker mit allen nötigen Formeln.
    Innenballistik (was mit dem Geschoß im Inneren der Waffe passiert)
    Außenballistik (Geschossflug und beeinflussende Faktoren)
    Terminalballistik (Was passiert, wenn ein Geschoss auftrifft)

    Klar, ein nicht ganz billiges Fachbuch. Aber auch als Nichtakademiker mit sehr begrenzten mathematischen Fähigkeiten lese ich gerne darin. Für Sportschützen kann es sehr interessant sein, zu wissen, was bei einer Schußabgabe so alles passiert.

  6. Ich interessiere mich eigentlich nicht für Ballistik, ich habe mich nur schon immer gefragt, ob jemand durch runterfallende Projektile verletzt werden kann.

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